Aus Erfahrung lernen oder das Rad neu erfinden – andere Gesundheitssysteme als Vorbild?
3. März – 5. März 2018 Berlin
Hohe Ansprüche werden an die Gesundheitsversorgung in Deutschland gestellt: Der Zugang soll leicht, jederzeit möglich und direkt vor Ort sein, die Qualität der Versorgung hoch und die Kosten niedrig. Ist das überhaupt möglich, vor allem, wenn man die äußeren Bedingungen wie demografische Entwicklung und ländliche Versorgung bedenkt? Dazu kommen die verschiedenen, vielfach gegenläufigen Interessen der Beteiligten: der Ärzte, der Krankenkassen, der Kliniken – und am Rande auch der Patienten, die sich bisher an das System anpassen müssen, jedoch auch nicht bereit sind, jenseits der Krankenversicherung für medizinische Leistungen zu bezahlen.
Die Aufgabe
Wie gehen andere Länder mit dieser komplexen Gemengelage um? Wo gibt es Unterschiede? Und gibt es Modelle, die als Vorbild dienen und auch in Deutschland umgesetzt werden könnten? Diese Fragen standen im Zentrum des ersten Think Camps 2018. Die Dozenten gaben Einblicke in die Gesundheitssysteme von Spanien, der Schweiz und Israel, die zum Beispiel Fernbehandlung, ambulante fachärztliche Versorgung am Krankenhaus oder gesundheitsdatenbasierte Prävention erlauben. Auch positive Beispiele und die Voraussetzungen für gelungene Modelle der integrierten Versorgung weltweit wurden dargestellt.
In Spanien findet man mehr ambulante Versorgung. Kliniken nehmen an der fachärztlichen Versorgung teil und haben keinen finanziellen Anreiz, stationäre Behandlungen vorzuziehen. Kürzere Verweildauern und weniger Krankenhausaufenthalte insgesamt tragen deutlich dazu bei, dass die Kosten für das Gesundheitssystem geringer sind als bei uns. Die Bürger sind jedoch auch bereit, für zusätzliche Leistungen selbst zu bezahlen.
In der Schweiz, in der ein Bundesgesetz die umfassende „obligatorische Krankenpflegeversicherung“ regelt, besteht für die Patienten dagegen kaum die Notwendigkeit, zusätzliche Kosten privat zu tragen. Dieses Bundesgesetz ist jedoch eine Ausnahme – denn die Kantone als Verantwortliche für die Gesundheitsversorgung haben ihre jeweils eigenen Gesetze, so dass faktisch zahlreiche Gesundheitssysteme in der Schweiz parallel existieren. So ist in einem Kanton das elektronische Rezept erlaubt, im anderen nicht. Vorteil: es gibt viele Modelle und Erfahrungen, von denen man gegenseitig lernen kann.
Clalit versichert 50% der Bevölkerung in Israel und ist damit der größte der vier Versicherungen mit integrierter Leistungserbringung in Israel. Da Clalit pro Versicherter lediglich eine Einmalzahlung pro Jahr erhält und die Versicherten oft sehr lange, teils lebenslang dort versichert bleiben, besteht großes Interesse daran, die versicherten Personen gesund zu halten. Die großen Datensätze, die vorhanden sind, werden deshalb auch wissenschaftlich ausgewertet und aktiv zur Gesundheitsprävention für die Versicherten verwendet.
Die Arbeiten der Teilnehmer
Nach intensivem Lernen und Austausch mit den Dozenten entwickelten die Teilnehmer des Think Camps in drei Gruppen ihre Vorschläge, wie das deutsche Gesundheitssystem positiv verändert werden könnte. Allen gemeinsam: eine stärkere Orientierung am Bedarf der Patienten und weg von der Behandlung von Erkrankungen hin zur Förderung von Gesundheit und Prävention.
Gruppe „Gesundheitspiloten“:
Olivia Bodnar, Annika Philipps, Antonia Rollwage, Beatrice Streit, Christian Weimar
Die „Gesundheitspiloten“ entwickelten ein integriertes Gesundheitssystem für die Stadt Halle (Saale) und die umliegende strukturschwache Region, in der in den nächsten Jahren ein Ärztemangel droht. Das Modell bietet Patienten Zugang zur medizinischen Versorgung in sogenannten „Kiosks“, die mit Gesundheitsassistenten besetzt sind. Der Kiosk kann an verschiedenen Orten des öffentlichen Lebens stationiert sein und stellt so die Erreichbarkeit für die Bevölkerung auch in der Fläche sicher. Die Gesundheitsassistenten haben im Vergleich zum klassischen Pflegepersonal einen erweiterten Kompetenzbereich und können die hausärztliche Basisversorgung selbstständig durchführen. Bei Bedarf kann per Telemedizin Kontakt zu einem Allgemeinmediziner hergestellt werden, der als Gatekeeper die weitere ärztliche Versorgung des Patienten steuert. Zusätzlich betreuen Gesundheitsberater Patienten, die den Kiosk nicht aufsuchen können und Hilfe bei der Verwendung mobiler Applikationen benötigen. Die AOK agiert in diesem Modell sowohl als Kostenträger als auch ambulanter Leistungserbringer, weil Ärzte in einem Angestelltenverhältnis tätig sein können. Dadurch werde Anreize zur Qualitätssteigerung und Kostensenkung gesetzt. Durch den smarten Gebrauch medizinischer Daten verschiebt sich der Fokus von der Krankenbehandlung hin zu mehr Früherkennung und Prävention. Die Einbindung digitaler Technologien erleichtert die Kommunikation und Kooperation aller an der Versorgung eingebundenen Teilnehmer.
Die Arbeit der Gruppe finden Sie HIER
Gruppe „Innovators of Tomorrow“:
Anna-Sofia Bilgeri, Robert Brandner, Peter-Jan Chabiera, Johanna Hilgen, Ariana Rothenbacher
Zu einer imaginären Live-Übertragung in den G-BA lud die Gruppe „Innovators of Tomorrow“ ein: sie stellten dem Innovationsfonds ihr neues Versorgungsmodell vor, das MVZ Plus, in dem in der Form einer Genossenschaft gemeinschaftlich von verschiedenen Berufsgruppen die Versorgung der Patienten übernommen wird. Dabei stehen attraktive Arbeitsmodelle für die verschiedenen Berufsgruppen und eine hochwertige ambulante, schwerpunktmäßig ländliche Versorgung im Mittelpunkt. Diverse Konzepte wurden aus Ländern übernommen, die „integrated care“ Konzepte bereits erfolgreich implementiert haben.
Die Arbeit der Gruppe finden Sie HIER
Gruppe „Innovation Care“:
Christian Buhtz, Chiara Kirchler, David Lampe, Clemens Moll
Eine Versorgung der Bürger vor Ort durch Stärkung des Pflegeberufs ermöglichen war das zentrale Thema der Gruppe „Innovation Care“. Der Pflegeberuf soll nicht zuletzt durch Akademisierung attraktiver werden, Arztassistenten vermehrt zum Einsatz kommen – und die Berufsfelder mit ihren Handlungs- und Einsatzfeldern neu geregelt werden. Zum Einsatz sollen sie auch in Pflegestützpunkten nach finnischem Vorbild kommen, wo sie fest angestellt sind und die Primärversorgung übernehmen können.
Die Arbeit der Gruppe finden Sie HIER
Die Dozenten:
- Ran Balicer, MD, Ph.D., MPH, Director Clalit Research Institute, Clalit Health Policy Planning Department, Israel
- Viktoria Stein, PhD, Director of Education and Training, International Foundation of Integrated Care (IFIC), Oxford
- Carolin Tetzel, LL.M., Executive Director, Helios International Holding GmbH
Urs Zanoni, MPH, Geschäftsführer fmc Schweizer Forum für Integrierte Versorgung