11. April 2019
Gute Pflegekräfte werden dringend gebraucht: in Krankenhäusern, Pflegeheimen und in der ambulanten Versorgung. Bereits heute herrscht ein spürbarer Mangel an Pflegekräften und angesichts der voranschreitenden Alterung der Gesellschaft spitzt sich die Situation zu. Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Doch die Pflegeberufe sind mit hoher Belastung verbunden, zum Teil schlecht bezahlt und gelten als unattraktiv. Zu wenige junge Menschen ergreifen den Beruf und viele, die sich dafür entschieden haben, verlassen ihn nach einiger Zeit wieder; sei es aus Überlastung, die nicht selten gesundheitliche Probleme zur Folge hat, sei es aus Frust, die erlernten Kompetenzen nicht anwenden zu können. Wie kann der Beruf attraktiver werden, so dass mehr Menschen dafür gewonnen werden? Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtables der Stiftung Münch im April.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Harold Engel, Ressortdirektor AOK Bayern
- Prof. Michael Ewers, Leiter des Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Charité
- Rolf Höfert, Geschäftsführer Deutscher Pflegeverband, Präsidiumsmitglied Deutscher Pflegerat
- Dr. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit, Robert Bosch Stiftung
- Vera Lux, Pflegedirektorin Uniklinik Köln
- Matthias Prommersberger, Vorstand Deutsches Netzwerk APN & ANP g.e.V.
- Johannes Technau, Geschäftsführer Buurtzorg Deutschland
sowie von der Stiftung Münch Eugen Münch (stv. Vorstandsvorsitzender), Professor Boris Augurzky (wiss. Geschäftsführer), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel.
„Es gibt im Bereich Pflege viele Baustellen. Diese müssen alle benannt und mit einem Gesamtkonzept angegangen werden“, so ein Teilnehmer der Diskussion. Die Konzertierte Aktion Pflege versucht dies und hat im Januar die ersten 111 Maßnahmen präsentiert. Doch sei dabei noch nicht die richtige Richtung eingeschlagen, „elf konkrete Maßnahmen wären besser gewesen.“ Aber das Thema sei auf der Agenda und werde bearbeitet, dies sei positiv zu bewerten.
Pflegekräfte aus anderen Ländern sind keine Lösung
Um die Stellen zu besetzen und die Lücken zu schließen, sollen verstärkt Pflegekräfte aus anderen Ländern gewonnen werden. Doch diesem Ansatz erteilten die Teilnehmer der Diskussion eine Absage. Denn in anderen Ländern haben Pflegende in der Regel eine höhere Qualifikation und Kompetenzen und übernehmen mehr Verantwortung, was nicht zur Pflege in Deutschland passt. Deutschland sei in dieser Hinsicht etwa 30 bis 50 Jahre hinterher, und erst, wenn dieser Rückstand aufgeholt sei, könne man attraktive Arbeitsplätze für Pflegende aus anderen Ländern anbieten. Ein Diskutant bemängelte zudem den Umgang: „Beispiel Philippinen: dort ist ein Studium der Pflege selbstverständlich. Aber wir lassen sie hier dann ein sechsmonatiges Praktikum machen, um zu sehen, ob sie überhaupt etwas können. Es ist peinlich, wie wir mit diesen Menschen umgehen.“
Um ausländische Pflegekräfte zu gewinnen, gibt es sogar den Vorschlag, die in Deutschland übliche Ausbildung in andere Länder zu exportieren. Doch auch diesem Vorschlag lehnten die Teilnehmer des Gespräches strikt ab. „Wir haben hier in Deutschland lauter Sonderwege, die wir nun nach China exportieren wollen, das kann nicht die Lösung sein“, spitzte es ein Teilnehmer zu. Auch der Deutsche Pflegerat hat gegen diesen Vorschlag protestiert. „Wenn die Menschen diese Ausbildung haben und dann in ihr Heimatland zurückkehren möchten, fehlt ihnen die dort erforderliche Anerkennung des Berufs“, begründete dies ein Diskutant.
Den Beruf attraktiver machen: Ausbildung und Akademisierung regeln, Tätigkeitsprofile festlegen
Einige Teilnehmer sprachen sich dafür aus, den in der Pflege beschäftigten Menschen Wohnraum anzubieten: „Ohne Wohnraum werden wir die Leute nicht halten“, formulierten sie. Gerade in den Ballungsgebieten mit ihren explodierenden Mieten und dem Engpass an Wohnungen könnte dies ein Weg sein, um insbesondere die Auszubildenden zu unterstützen. Aber auch in ländlichen Regionen könnte dies ein attraktiver Anreiz sein, denn nach Ansicht einiger Teilnehmer ist vielen Berufstätigen die Nähe zum Arbeitsplatz durchaus wichtig. Ein Diskussionsteilnehmer schlug vor, nicht mehr genutzte und veraltete Klinikbereiche umzubauen, statt die Gebäude abzureißen.
Doch am wichtigsten ist es, den Beruf grundsätzlich so attraktiv zu gestalten, dass er für die Menschen eine echte Alternative zu andere Berufen ist. Dazu muss die Ausbildung reformiert und zugleich ein akademischer Zugang gefördert werden. So, wie dies derzeit angedacht sei, gäbe es zu viele Kompromisse, waren einige Diskussionsteilnehmer überzeugt. Ein Diskutant forderte ein Bachelorstudium auf der einen und eine zweijährige Ausbildung auf der anderen Seite, flankiert von einer klaren Aufgabenverteilung.
Bei der Ausbildung besteht dringender Handlungsbedarf. „Wir halten an alten Strukturen fest und basteln ein bisschen drum rum“, so ein Teilnehmer, „wir wollen nicht wahrhaben, dass wir die Pflegeberufe in vormodernen Systemen ausbilden.“ Der Sonderweg, dass die Ausbildung in an Krankenhäusern angesiedelten Krankenpflegeschulen stattfindet und über die Krankenkassen finanziert wird, birgt viele Risiken. So sind zum Beispiel viele der Lehrer derzeit nicht akademisch ausgebildet, die Ausstattung der Schulen oft mangelhaft und die Qualität der Ausbildung nicht klar geregelt.
Auch die Akademisierung der Pflegeberufe muss gestärkt werden. Sie fördert die Qualität der Patientenversorgung, befähigt zur Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben und stärkt so auch das Selbstverständnis der Berufsgruppe. Während in den meisten Ländern ein Studium Voraussetzung für eine Tätigkeit in der Pflege ist, haben in Deutschland lediglich ein bis zwei Prozent der Absolventen der Pflegenden eines Jahrgangs ein Studium der Pflege abgeschlossen. „Bei uns haben über 50 Prozent der Schulabgänger eine Hochschulzugangsberechtigung, wenn es kein Studium der Pflege gibt, entscheiden sich viele für etwas anderes“, warnte ein Teilnehmer.
Die Potenziale der Pflege werden nicht ausgeschöpft: Erhöhung der Attraktivität des Berufs durch Stärkung der Autonomie und Selbstständigkeit
Doch was nützt die Akademisierung, wenn die im Studium erworbenen Kompetenzen im Berufsalltag nicht angewendet werden können? Ein Diskutant berichtete von einer informellen Befragung unter Arbeitgebern, wo sie sich den Einsatz akademischer Pflegekräfte vorstellen können. Antworten blieben aus, lediglich einer sah eine Möglichkeit in der Qualitätssicherung. Es sei erschütternd, dass es kein Vertrauen gäbe, dass die Pflegenden das, was sie lernen, auch anwenden können. Dieses mangelnde Vertrauen führe auch dazu, dass die Potenziale der Pflegenden nicht ausgeschöpft, sondern sie im Gegenteil klein gehalten würden.
Als Beispiel wurde die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit genannt, die vom Medizinischen Dienst der Kassen (MDK) vorgenommen wird. Dies müsste nach Meinung einiger Teilnehmer des Gesprächs jedoch aufgrund der Kompetenz klar Aufgabe der Pflege sein. „Das ist unerträgliche Unmündigkeit“, so die Meinung. Dem Einwand, dass den Bedarf nicht derjenige feststellen dürfe, der die Versorgung erbringt, weil sonst „Selbstbedienung“ drohe, stellte ein Teilnehmer die Erfahrung mit dem Buurtzorg-Modell entgegen. Dabei legen die Pflegekräfte den Bedarf selbst fest, die Ergebnisse über zehn Jahre zeigen, dass sich die Kosten nicht erhöht, sondern im Gegenteil um rund 30 Prozent reduziert haben. Nicht zuletzt, da die Teams ertüchtigende Pflege erbringen.
Auch das Ausstellen von Rezepten durch qualifizierte Pflegekräfte müsse möglich sein. „Es ist der Witz des Tages, dass ambulante Pflegekräfte in die Arztpraxis fahren müssen, um ein Rezept zu holen. Und dort dann noch dazu oft die medizinische Fachangestellte darüber entscheidet.“ Die Autonomie und die Selbständigkeit zu erhöhen, seien wesentliche Hebel, um den Beruf attraktiver zu machen. Gerade in Kliniken hätten Mitarbeiter der Pflege kaum noch Möglichkeit, an der Organisation mitzuwirken. Sie stünden vor den Betten, die vom Case Management gefüllt werden und müssten damit umgehen und Probleme ausbaden. Das Buurtzorg-Modell zeigt jedoch, wie wichtig die eigenständige und eigenverantwortliche Planung ist: die Aufgaben werden im Team festgelegt, was ein zentraler Baustein für den Erfolg dieses Modells ist.
Um diese Forderungen im Sinne des Berufsstandes durchzusetzen und zu regeln, braucht es eine klare Stimme, die in die Entscheidungen eingebunden ist und ein aktives Mitspracherecht hat. Die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer war daher der Ansicht, dass eine Pflegekammer unumgänglich ist.
Neue Finanzierungsmodelle können Pflege stärken
Die Ausgliederung der Pflege aus dem DRG-System im Zuge des Pflegepersonalstärkungsgesetzes soll dazu beitragen, die Pflegekräfte in den Kliniken zu stärken und durch höhere Personalschlüssel zu entlasten. Demnach übernehmen künftig die Krankenkassen die Personalkosten der in der Pflege beschäftigten Mitarbeiter (Selbstkostendeckung). Einige der Diskussionsteilnehmer warnten davor, dass damit die Situation nicht besser, sondern schlechter werde – auch und gerade für die in der Pflege tätigen Menschen. Weil für Krankenhäuser künftig kostenlos, würden sie wieder für pflegefremde Aufgaben eingesetzt, in Entlastungstechnologien nicht mehr investiert – und die Kliniken zögen durch höhere Gehälter Pflegende aus den Pflegeheimen, den Rehakliniken und der ambulanten Pflege ab, wo sich in der Folge die Situation weiter verschlechtere.
Eine Alternative böte eine grundlegend neue Art der Finanzierung wie etwa mit Capitation-Modellen, bei denen eine Region eine Vergütung für die Gesundheitsversorgung der dort lebenden Menschen erhält. Dadurch entsteht eine andere Situation, weil der Gewinn in einem solchen Modell am größten ist, wenn der Patient gar nicht erst krank wird. Das Krankenhaus wäre nicht mehr der „Reparaturort“, Menschen würden verstärkt ambulant betreut und es würde versucht, sie möglichst lange gesund zu halten. Dadurch würde auch die Pflege eine ganz andere Rolle erhalten.
Einige Teilnehmer regten eine Zusammenlegung von SGB V und SGB XI an, um die Schnittstellen der pflegerischen Versorgung zwischen den Sektoren zu verbessern. Im SGB V sind die durch die Krankenkassen in vollem Umfang übernommenen Leistungen geregelt, darunter auch ein Teil der Leistungen für vorübergehende Krankenpflege. Im SGB XI finden sich die Leistungen der Pflegeversicherung für die Finanzierung von dauerhafter Pflege. Diese getrennte Finanzierung steht einer bedarfsgerechten Versorgung oftmals im Weg. „Wenn ein älterer Mensch einen Schenkelhalsbruch hat, aber sonst fit ist, darf er nach der stationären Versorgung nicht im Pflegeheim landen“, formulierte es ein Teilnehmer. Mit einer „Mischpauschale“ würde erreicht, dass Rehabilitation Vorrang habe. Die pflegerische Versorgung wäre aus einem Guss, wovon die Patienten profitieren, aber zugleich auch die Pflegeberufe gestärkt würden.
Emanzipation der Pflege von den Ärzten: „Es gibt nur so lange Halbgötter in Weiß, wie es Pflegende gibt, die sie anhimmeln“
Die ärztliche Dominanz steht der Entfaltung der Pflegenden vielfach im Weg. „Wenn akademische Pflegekräfte auf Ärzte prallen, fühlen letztere sich bedroht“, so ein Teilnehmer. Er warnte davor, dass bei der Ausbildung „Dubletten“ geschaffen werden, bei denen sich Aufgaben überschneiden: „Da gibt es dann eine klare Absage der verfassten Ärzteschaft, weil es um Honorarumschichtungen geht.“ Neue Berufe wie zum Beispiel ein „Pflegemediziner“ würden wieder eine Unterordnung unter die Mediziner bedeuten. Ein Teilnehmer plädierte dafür, die Ausbildung der Pflegeberufe in eine neuartige, ambulante medizinische Ausbildung einzupflanzen, die als parallele Disziplin zur klinischen Medizin angeboten werden müsste.
„Es gibt keine ärztlichen Aufgaben. Es gibt Aufgaben, die gemacht werden müssen, um den Patienten zu helfen.“
Ein weiterer Punkt, an dem derzeit auch im Zuge der Konzertierten Aktion Pflege gearbeitet wird, ist die Schaffung einer höheren Anerkennung der Pflege. „Momentan gilt die Pflege als das Proletariat des Gesundheitssystems, und nach Meinung vieler soll das so bleiben“, bemängelte ein Diskussionsteilnehmer. Mittlerweile gebe es Etats, um für den Beruf zu werben. Doch Teile davon hielten einige Teilnehmer für herausgeschmissenes Geld: „Das ist, als würde die Bundeswehr Werbung für Abenteuerurlaub machen.“
Nicht nur in der Zusammenarbeit mit den ärztlichen Kollegen fehlt die Anerkennung der beruflichen Kompetenz. Auch große Teile der Bevölkerung haben wenig Vertrauen in die Pflege, sie würden lieber mit dem Herrn Doktor Meier statt mit der Schwester Erika sprechen, so ein Teilnehmer. Deshalb müsse auch die Bevölkerung adressiert werden, wenn eine andere Wahrnehmung erreicht werden soll. Und auch die in der Pflege tätigen selbst sind gefordert. Ein Teilnehmer gab ein Zitat von einem Kongress wieder: „Es gibt nur so lange Halbgötter in Weiß, wie es Pflegende gibt, die diese anhimmeln.“
Um eine höhere Anerkennung zu erreichen, muss die Wahrnehmung des Berufes verändert werden. Pflege sei kein Handwerk, sie sei nur dazu verkommen. Es handelt sich um einen eigenständigen, modernen Beruf mit eigenem Wissensfundus und Aufgaben- und Verantwortungsrahmen. Nicht unter, sondern neben Medizinern.
Ein Teilnehmer formulierte: „Es gibt keine ärztlichen Aufgaben. Es gibt Aufgaben, die gemacht werden müssen, um den Patienten zu helfen. Und für diese Aufgaben gibt es unterschiedliche Qualifikationen.“ Entsprechend würde er auf die Frage, was er mache, antworten: „Ich studiere Patient.“
Die Zusammenfassungen der anderen Luncheon Roundtable-Gespräche finden Sie HIER